Karpfengeschichten

Das Mückenlarven-Atoll

(eine Hans-Eberhardt-Tillmann-Geschichte)

An der Oberfläche knallte der helle gelbe Ball hemmungslos auf das bereits lauwarme Nass. Es war schwül. Ein Sommertag wie gemacht zum daherflosseln. Hans-Eberhardt Tillmann, seines Zeichens Oberleutnantskarpfen schwamm seine tägliche Wachrunde und frohlockte dem Feierabend entgegen.

In letzter Zeit wurde das Gewässer regelrecht überschwemmt von Horden orientierungsloser Mückenlarven. Hans-Eberhardt war Gourmet. Mückenlarven kamen ihm nicht auf den Tisch. Dennoch musste sich jemand um dieses immer größer werdende Problem kümmern, bevor es katastrophale Ausmaße annehmen konnte. Es hatte den Anschein als läge es erneut an ihm, dieses Problem aus der Welt zu schaffen. Wie immer. Nicht, dass er der einzige diensthabende Karpfen im Gewässer wäre. Dem war ganz und gar nicht so. Der Rest verstand es nur außerordentlich gut, sich was wichtige Aufgaben betraf, nicht vorzudrängeln. Und was die anderen Fische betraf, der Oberleutnantskarpfen blubbte entmutigt, mit denen konnte man sowieso nicht rechnen.

Mückenlarven waren die Pest. Sie schmeckten nicht sonderlich gut und waren frech und eingebildet. Satt machten sie auch nicht. Kurzum, es gab nicht einen positiven Aspekt, den er mit ihnen verbinden konnte. Trotzdem stellte er Berechnungen an. Wieviele Tage er wohl bräuchte, um alle Mückenlarven bis auf die letzte zu vernichten. Alleine. Mit der Unterstützung seiner Frau Hildefried konnte er in diesem Punkt auch nicht rechnen. Sie hatte ihm strenge Diät verordnet. Er wäre mit dem Alter fett geworden, hatte sie erst gestern noch gesagt. Mückenlarven setzten zwar weder an, noch machten sie satt, dennoch war er nie zuvor mit einem solchen Ausmaß konfrontiert gewesen. Unmöglich zu sagen, wieviele es waren. Und Hildefried würde misstrauisch werden, wenn er nach Hause käme und keinen Appetit mitbrächte. Wie er da vor sich hersann, schwamm eines dieser fiesen Biester an ihm vorbei. Sein Maul zuckte. Eine weniger. Zu dumm. Die nächste würde er erst befragen, bevor er sie fraß. Da, noch eine. Zack und weg war auch sie. Gefressen. Nun, es gab so viele, sicherlich bliebe noch die eine oder andere übrig. Für eine Tillmannsche Befragung.

to be continued

Zu Ehren von Hans-Eberhardt

ach, was tat es mir im Herzen leid

als ich dich tot an der Oberfläche schwimmen sah

doch war es für dich an der Zeit

du musstest sterben, das war mir klar

du warst dir dessen nicht bewusst, ich konnt’s dir auch nicht sagen

du warst eines Höheren bestimmt, was willst du da noch klagen

dein Tod war eine Geschichte wert

nun wirst du auch im Reim geehrt

fast würde ich sagen „Ruhe in Frieden“, doch erwartet dich noch so viel

dein Leben, dein Tod, alles war stets der Schreiberlinge Federkalkül

 

Der Tag an dem der Karpfen starb

Morgen

Nichts plätscherte so schön, wie die Quelle des Süßgewässers, in welchem Heinz Eberhardt Tillmann, seines Zeichens Oberleutnantskarpfen, seine Runden schwamm. Es war nahezu Winter. Die Familie hatte sich entschlossen, noch vor der kalten Zeit seine Geburtsstätte aufzusuchen. Hier gab es mehr Pflanzen, das Wasser war wärmer, kurzum ein schöner Platz, um nochmals Kraft zu tanken und die Flossen baumeln zu lassen. Allzu viel Zeit blieb ihnen nicht. Schon jetzt wurde das Wasser zusehends kühler. Und seit einigen Tagen sah er immer häufiger Menschen am Uferrand stehen. Sie trugen lange dünne Stöcke mit Schnüren bei sich. Ein uraltes Wissen, tief in ihm verankert, hielt ihn davor zurück, sich diese Wesen näher anzuschauen. Seiner Frau und den Kindern hatte er ebenfalls verboten, sich in irgendeiner Art und Weise zu nähern.

Nichtsdestotrotz hatte sich der Filius gestern morgen aufgemacht, das Rätsel zu ergründen. Die Jugend. Heinz-Eberhardt gab etwas von sich, was man wohl aus menschlicher Sicht als Seufzer titulieren würde “Blub”. Seit gestern galt sein Sohnemann als verschollen. Der Oberleutnantskarpfen war dennoch der festen Überzeugung, dass der Kleine auf sich selbst aufpassen könnte. Schließlich war er schon im fortpflanzungslaichigen Alter.

via Der Tag an dem der Karpfen starb.

Mittag

Der Filius hatte sich verschwommen. Das war ihm noch nie passiert. Wenn Vater das wüsste, er wäre maßlos enttäuscht. Seit dem gestrigen Morgen steckte der Kleine in einem Algenwald fest und fand nicht mehr heraus. Warum hatte er auch unbedingt näher an die komischen aufrechtgehenden Wesen oberhalb des Wassers heranschwimmen müssen. Fluchend blubbte er zwischen Alge 4,7 und 10 hin und her. Seine Schmach hatte ihm genügend Zeit gegeben, den Algen Nummern zu geben. Anfangs hatten die Algen ihn noch ausgelacht, jetzt waren sie genervt. Ständig rempelte er sie gegeneinander. Alge 4 und 7 waren sich noch nie sonderlich grün gewesen, Alge 10 verzweifelte ob der immer häufiger auftretenden Zickereien zwischen den beiden anderen. Und dieser blöde Karpfen machte das Ganze nicht erträglicher. Aus heiterer Wasseroberfläche zischte plötzlich ein Haken herab. An seinem Ende hing eine erschöpfte Wasserschnecke. Der Filius verspürte jäh, wie sich sein Appetit regte. Zwar hatte er versucht, die Algen davon zu überzeugen, dass einige ihrer Blättchen kein so großer Schwund für sie wären, dennoch waren seine Bemühungen nicht auf fruchtbaren Boden gefallen. Sie waren einfach zu viele. Und er war zwischen ihnen gefangen. Die Wasserschnecke war sein einziger Ausweg aus dieser Misere. Schon schnappte er nach ihr, da hielt ihn Alge 10 an der Seitenflosse zurück. „Wie doof bist du eigentlich? Weißt du nicht, was das ist?“ „Liebste 10“, die Alge schnaufte, „das ist mein Ausweg. Ich verhungere sonst. Was von oben herunterkommt, geht vielleicht auch wieder herauf. Ich muss nur rechtzeitig die Schnecke abknabbern und loslassen.“ Nr. 10 zuckte die Blättchen und ließ ihn gewähren. Schließlich wäre sie mit seiner Dämlichkeit dann auch die blöden Zickereien der anderen quitt. Und dann schnappte der Filius erneut zu.

Abend

Hans-Eberhardt Tillmann hatte den Mittag damit verbracht, sinnlos umherzuschwimmen. Das konnte er wie kein zweiter. Nicht umsonst war er Oberleutnantskarpfen geworden. Diesen Titel bekamen nur ganz bestimmte.. – lassen wir das. Von einer daherschwimmenden Mückenlarve hatte er beunruhigende Neuigkeiten erfahren. Im Algenwald solle sich ein Fisch vergrätet haben. Das konnte doch nicht der Filius sein? Etwas selten dämlicheres hatte Hans-Eberhardt noch nie gehört.

Unschlüssig, ob er diesem Gerücht und seiner damit verbundenen Vermutung nachgehen sollte, ließ er sich weiter im Wasser treiben. Leider übersah er dabei, dass er sich gefährlich nah am Ufer befand. Als ihm diese Tatsache bewusst wurde, war es fast zu spät. Er konnte gerade noch rechtzeitig einem herabhängenden Haken ausweichen. Es gab einen furchtbar hässlichen Kratzer an der linken Breitseite und eine schmale Blutspur, die hinter ihm herzog. Sterben würde er daran wohl heute nicht mehr. Es gab wichtigeres. Jetzt, seiner Umgebung bewusst geworden, trieb ihn sein Vaterinstinkt vorwärts, dem Algenwald entgegen. Allzuweit konnte dieser nicht mehr entfernt sein. Nachdem er zwei Mal weiteren ins Wasser ragenden, hinterlistigen Haken ausgewichen war, sich darüber im Klaren, dass er ins Lebensgefahr schwebte, bot sich ihm ein eher seltener Anblick. Angekommen an der Grenze zum Algenwald, in der festen Überzeugung, den Filius aus misslicher Lage retten zu müssen, erblickte er zunächst zwei sich zankende Algen, die sich, völlig verheddert, zum Leidwesen einer dritten, gegenseitig mit Mückenlarven bewarfen. Vom Filius nicht die geringste Spur. Der Oberleutnantskarpfen war verärgert. Sollte er auf einen dummen Scherz einer noch viel dümmeren Mückenlarve hereingefallen sein? In diesem Moment klatschte von der Wasseroberfläche der Filius hinab. Aus seinem Maul lugten die Reste einer Wasserschnecke hervor. “Nun, Junior? Hast du mir irgendetwas zu erklären?” “Ich kann jetzt fliegen. Bislang klappt es aber nur mit der Hilfe dieser anderen Wesen von außerhalb. Soll ich dir mal zeigen, wie es geht?” Hans-Eberhardt war sprachlos. Nie und nimmer hätte er gedacht, dass sein Sohn derart leichtsinnig und dumm sein könnte. “Ich möchte nichts mehr hören. Wir schwimmen jetzt zu den anderen zurück.” Die Rückreise verlief still, abgesehen von ein paar Aufblubberern, die der Oberleutnantskarpfen bei plötzlich aus dem Nichts auftauchenden Haken und Stöcken von sich gab. So oft und so knapp waren sie dem Tod noch nie von der Schippe gesprungen. Bei den anderen angekommen traute sich der Filius wieder sein Maul aufzumachen “Vater, warum können Algen sprechen?”

Hans-Eberhardt Tillmann, seines Zeichens Oberleutnantskarpfen blickte erst entgeistert, dann fing er hysterisch an zu lachen. Und erstickte. Leider.